Kirsten Jäschke (Kunsthandwerk & Design, 5/2010, pp.20-27, translated):
Dynamisches Fließen
Papierschmuck von Lydia Hirte
Fließend, floral, gefächert wie Flügel, farbenfroh und flatterig fragil – so geben sich die Schmückstücke Lydia Hirtes. Schön, aber hält das? Lydia Hirte scheint diese Frage schon allzu oft gehört zu haben, denn sie reagiert leicht genervt: „Schauen Sie doch mal, die stehen total unter Spannung.“ Und tatsächlich, jenseits des bloßen Augenscheins macht es Sinn, die Bezeichnung fragil durch formstabil und fest zu ersetzen. Die papierenen Anhänger verdanken ihre Ausstrahlung einem Gestalt gewordenen Widerspruch, denn was beim Anschauen leicht und bewegt daherkommt, erweist sich nach einer zu Anfang noch schüchternen Berührung mit den Händen als schwer zu manipulierendes Bündel voll physikalischer Spannung, das dem Druck der Finger kraftvoll widersteht.
Papier ist ein zäher und flexibler Stoff, der erst wenn er altert brüchig und spröde wird. Physiker und Restauratoren beurteilen seinen Zustand nach Faktoren wie Dauerbiegezahl, Falzzahl und Reißfestigkeit. Ermittelt werden diese Größen durch maschinelle Tests, indem das Material solange gebogen oder gefaltet wird bis es bricht. Auch Lydia Hirte treibt das Papier bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit, allerdings in künstlerisch intuitiver Form. ...
Widerstand im Material zu erzeugen ist Lydia Hirte also ein Anliegen, und das spürt man nicht nur beim Anfassen der Schmuckstücke. Ein eigener Text zu ihrer Arbeitsweise liest sich wie eine Kampfbeschreibung: „Ich fasse das Bündel. Was nach hinten zeigt zwinge ich nach vorne, Formenden in unterschiedlichen Positionen zwinge ich auf eine Ebene, ich knicke nach unten, um eine Bewegung nach oben folgen zu lassen, ich zerre Formen auseinander, ich füge einen plötzlichen Richtungswechsel ein, ich nutze Farben um Lage und Verlauf der Formen sichtbar zu machen ...“ Die durch solcherlei interaktives Ringen entstandene Form fixiert Hirte, indem sie Perlseide durch die geschichteten Enden des Bündels zieht und verknotet. Die Knoten wiederum verstärkt sie mit eingefärbtem Kleber.
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Hirtes Gestaltungsansatz basiert auf der Anwendung einer konstruktiven Methode, auf einer formalen Idee, die in erster Linie auf sich selbst verweist. Dementsprechend nüchtern, ja pragmatisch ist ihr Verhältnis zum Phänomen Schmuck und dessen Träger. Am Schmuck schätzt sie zum einen das kleine Format, das es ihr erlaubt, die Anhänger in einem Stück mit den Händen zu formen. Das Papier kann unmittelbar auf den Druck der Finger reagieren. So hat sie – auch wörtlich genommen – während des Arbeitsprozesses stets alles im Griff. Zum anderen sehen die Objekte aus jeder Perspektive anders aus, sie sind nicht auf einen Blick zu erfassen. Das Bilderlebnis hängt von Zufälligkeiten wie der Bewegung des Trägers und dem Standpunkt des Betrachters ab. Um seine skulpturalen Qualitäten zu entfalten, braucht der Schmuck daher einen Hintergrund, auf dem er nicht statisch verharrt, sondern wie von selbst gelegentlich die Schauseite wechselt – eben den Körper seines Trägers....
Seit Beginn ihrer Laufbahn dienen Lydia Hirte Linien dazu, Strukturen aufzuzeigen und dadurch einen raffinierten, optisch bewegten Eindruck zu schaffen. Dreidimensionalität entwickelt sich bei ihr seit jeher aus der Fläche. Schon zu ihrem Diplom an der Hochschule für Gestaltung in Pforzheim gestaltete sie Broschen aus gefalteten Neusilberblechstreifen. Die Streifen treten dabei mal als Linie, mal als Fläche in Erscheinung, deuten in einem Bewegungsablauf Räumlichkeit an, die dem insgesamt eher grafischen Erscheinungsbild Tiefe verleiht. In ihrer Reduziertheit und konstruktiven Anlage zeigen diese Arbeiten eine Verwandtschaft zu den Schmuckstücken ihres Lehrers Jens-Rüdiger Lorenzen.
Papier verwendete Lydia Hirte zunächst nur, um Modelle zu bauen, die sie dann in Metall umsetzte. Dabei entdeckte sie sehr bald, dass Papier und Pappe ihrem Bedürfnis nach schneller Verarbeitbarkeit, Leichtigkeit und und farblicher Vielfalt besser entsprechen als andere Werkstoffe. Sie sei ungeduldig, behauptet Lydia Hirte und da komme ihr das Papier entgegen. Ungeduldig? Schmuckgestalter scheinen in dieser Hinsicht anderen Maßstäben zu folgen als gewöhnlich, denn immerhin dauert die Herstellung eines Anhängerschmucks bei ihr im Schnitt etwa eineinhalb Wochen.
Solche Anhänger, die wesentlich von der Spannung zwischen der rhythmischen, ausufernden Dynamik der Linien und der Geschlossenheit der Form als Ganzem geprägt sind, gestaltet Lydia Hirte seit ihrem Umzug nach Dresden im Jahr 2004. Zuvor hatte sie wegen der Adoption zweier Kinder beruflich einige Jahre pausiert: ...
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Lydia Hirte wünscht sich Texte zu ihrem Schmuck schlicht und direkt. Ausufernde Beweihräucherungen und anderes Brimborium könne sie nicht leiden. Jedoch der Rezensent tut, was er will. Er zitiert an dieser Stelle aus einem Essay von Jacques Derrida, in dem sich dieser zum Subjektil, einem alten Wort für Untergrund in der Malerei, der ja durchaus aus Papier bestehen kann, äußert. Der Auszug passt aber auch auf Lydia Hirtes Art, dem Wesen ihres Materials gerecht zu werden:
„...das Subjektil leistet Widerstand. Es muss Widerstand leisten. Es leistet bald zu viel bald zu wenig Widerstand. Es muss Widerstand leisten, um endlich als es selbst behandelt zu werden und nicht als der Träger von etwas anderem, als die Oberfläche oder das untergegebene Substrat einer Repräsentation. … Sein träger Körper darf nicht zu viel Widerstand leisten. Wenn er es tut, muss er misshandelt, gewaltsam angegriffen werden. Man wird handgreiflich gegen es werden. Das weder/noch des (weder unterworfenen noch nicht unterworfenen) Subjektils bildet also den Ort eines double blind: und als solcher wird es undarstellbar...“